[vergessene Fahnen]
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11 Tage im Dezember sind Florian Thalhofer und Juliane Henrich mit der Kamera durch Deutschland gereist. Auf der Suche nach den vergessenen Fahnen der Fußball-Weltmeisterschaft und ihren Besitzern sammelten sie Bilder und Interviews für einen Korsakow-Film, der zur Zeit im Rahmen des Projekts "Odysseus auf der Suche nach Europa" auf der Seite des Goethe-Instituts zu sehen ist. Hier das Logbuch der Reise mit einigen Ausschnitten aus dem Film.

LOGBUCH


Tag 01 - Samstag, 2.12.2006
Berlin

Wir versuchen es zuerst bei meinem Nachbarn. Seine Fahne, die ich mir seit einem halben Jahr aus dem Küchenfenster heraus anschauen muss, hat mich überhaupt erst auf die Idee für dieses Projekt gebracht. Herr Fluck ist zu Hause. Eigentlich hat er keine Zeit und überhaupt muss er aufräumen. Am Abend zuvor hatte er Gäste. Um fünf Uhr früh sind die letzten gegangen. Er will sich noch fertig machen und schickt uns aufs Dach. Strahlender Sonnenschein, gleich zwei zerfledderte Deutschlandfahnen flattern im Wind. Herr Fluck handelt mit Altbauimmobilien. Das ganze Haus gehört ihm. Deutschland hat sich verändert nach der WM, man muss sich nicht mehr schämen, sagt er und erklärt, was man vom Dach aus sieht. Den Reichstag, den Fernsehturm, ein alter Wasserturm, die Spitze sieht aus wie ein umgedrehter Trichter, da wohnt Thierse. Von Flucks Dachterrasse hat man einen 360 Grad Blick auf Berlin. Die Fahnen wird er hängen lassen, bis sie ganz kaputt sind. Auch wenn ihn schon ein paar Freunde auf die Fahnen angesprochen haben, die es komisch finden, dass sie immer noch hängen. "Aber was sollte ich sonst damit machen?"

Herr Neuburger in Berlin-Neukölln hat den ganzen Balkon voll mit Deutschlandfahnen, Weihnachtsmännern und Lichterketten. Da freuen sich die Leute, wenn sie zur Arbeit fahren. Und die Touristen im Hotel gegenüber machen Fotos. Man kennt ihn schon in Japan und den USA. Herr Neuburger hat sich gefreut, als die Fahnen so billig wurden, da hat er sich eingedeckt. Er muss rechnen. Seit er sich bei einem Unfall fast die Hand abgeschnitten hat, ist der gelernte Metzger arbeitslos. Er lebt von Harz 4. Essen gehen kann er sich nicht mehr leisten und Geld in die Kneipe tragen, das ist vorbei. Aber "Deutschland ist ein schönes Land und seit der WM darf man es auch zeigen."


Tag 02 - Sonntag 3.12.2006
Brandenburg

Wir fahren hinaus aus Berlin. Jule zählt Deutschlandfahnen. Es gibt jede Menge. 31 werden es bis zum Abend sein. In dem Dorf Sommerfeld ist ein Tor in Schwarz-Rot-Gold gestrichen. Wir steigen aus und filmen. Hinter dem Tor ein Innenhof mit einem Wohnwagen, umgenutzt zu einer Art Imbissbude. Peter, sein Besitzer: "Eigentlich ist das hier eher eine Art Getränke-Imbiss". Es ist nicht ganz klar, wie der Laden läuft. Alle Gäste scheinen Freunde zu sein, keiner zahlt bar. Peter führt Strichlisten auf einer Hand von Zetteln. Er reicht Bierflaschen und Schnäpse aus dem Wohnwageninneren.

Nach einer Weile torkelt die Jugend von Sommerfeld durch das schwarz-rot-goldne Tor. In der Nacht vorher wurde ein einundzwanzigster Geburtstag gefeiert. "Nazi bin ich nicht" brüllt der betrunkenste, dazu bin ich zu jung. Ich bin Neonazi. Neo heißt neu", erklärt er und bestellt einen Whisky. Whisky gibt es nicht. Peter sagt, so ein hartes Zeug verkauft er nicht. Dann also Schnaps.

Die Fahnen hat Peter wegen der WM hingemalt und damit das braune Jungvolk angelockt. Peter ist das sichtlich unangenehm. Beim ersten Spiel hätten die noch ihre Lieder gegrölt und üble Bemerkungen gemacht. Aber das Problem haben Peter und seine Freunde schnell in den Griff bekommen. Peter findet Deutschland irgendwie gut, er ist stolz auf sein Land. Ganz anders als die mittlerweile völlig betrunkenen Jugendlichen in Springerstiefeln. Die können mit schwarz-rot-gold ohnehin nicht viel anfangen. Ihre Fahne wäre die schwarz rot weisse Reichsflagge. Die würden sie sich vors Haus hängen, aber das ist verboten.

Es wird schnell dunkel, wir filmen noch ein wenig auf einem leeren Feld. Suchen eine billige Pension und aus die Maus.


Tag 03 - Montag, 4.12.2006
Steinhagen, Warnemünde, Wismar, Mecklenburg Vorpommern

Die billige Pension überrascht am Morgen mit eine riesigen Thermoskanne voll Kaffee, belegten Brötchen, einem Ei und einem Urwald von Topfpflanzen im Frühstückszimmer. Wir fahren los und finden lange keine Fahnen. Dafür wunderbares Licht und sehr kleine Ponys Wir filmen. Weiter über Landstrassen. In einem kleinen Dorf ein sehr beeindruckendes Exemplar Deutschlandfahne. Wir nähern uns mit der Kamera von allen Seiten, doch der Besitzer ist nicht da.

Weiter nach Rostock, wir filmen am Hafen und dann nach Warnemünde. Gespräch mit einem alten Fischer auf seinem Kutter. Die Fahne muss er haben, das ist Vorschrift. Gerne hängt er sie sich nicht ans Boot. Die alte DDR-Fahne war ihm lieber. Überhaupt, früher war es besser. Man war zu dritt auf dem Schiff, jetzt muss er alleine raus. Das ist viel anstrengender und saufen kann er jetzt auch nicht mehr. Anruf vom Deutschlandradio, ich gebe ein Interview. Danach bin ich ein wenig frustriert, weil ich so oberflächliches Zeug geredet habe. Ich tröstete mich mit einem Fischbrötchen. Ein paar Kilometer weiter noch eine Fahne hoch am Mast. Ein etwas redemüder 21-jähriger, der Wärmepumpen herstellt. Wir interviewen ihn in seinem Büro. Danach ist es fast dunkel. Bis es ganz dunkel ist, filmen wir auf einem Kohlfeld. Wahnsinnig schönes Licht. Wir fahren noch bis Wismar. Sehr hübscher Weihnachtsmarkt. Romantische Altstadt, nette Pension.


Tag 04 - Dienstag, 5.12.2006
Lübeck, Schleswig-Holstein

Herr Besser ist 86 Jahre alt und er hat seit 46 Jahren keinen Urlaub gemacht. Er besitzt in Lübeck ein weisses Hochhaus mit Wohnungen aus den 70er Jahren. Hoch oben auf dem Dach weht weithin sichtbar eine riesige Deutschlandfahne. "Die Deutschen sollen arbeiten!" brüllt er ins Telefon, "Ich bin 86 Jahre alt und ich habe seit 46 Jahren keinen Urlaub gemacht. Ich habe keine Zeit. Auf Wiedersehen!" Wir würden gerne mit ihm sprechen. Das nächste Mal ruft Jule an. "Auf Wiedersehen!" ruft Herr Besser ins Telefon und legt auf.
Wir fahren weiter und werden an diesem Tag noch drei mal abgewiesen. Ein Junge in Oktoberfest-2005-T-Shirt, ein lustiger Gerüstbauer mit seinem Sohn, ein Mann der mit vier Mann als Subunternehmer auf einer Werft tätig ist. Gerade arbeitet er an der neuen Privatyacht des russischen Ölmoguls Roman Abramowitsch. Seine Kinder wollten die Fahnen haben. Hauptsache es flattert was. Vor der WM hatten sie eine Piratenfahne.
Frau Risch lässt uns ein. Ihr Mann ist Manager bei Schwartau. Wir führen ein fröhliches Interview und plaudern noch lange bei Tee und Keksen. Wir verlassen ihren Hof mit selbst gemachtem Apfelsaft und einer Tüte voller Äpfel. Oberhalb von Kiel soll eine Fahne stehen. Es ist dunkel als wir ankommen. Frau Brusgatis züchtet Hunde, ihr Mann abreitet für 7 Euro 50 Brutto als Nachtwächter, sie selbst steht jeden Morgen um 2 Uhr auf um Zeitungen auszutragen. 200 Euro bekommt sie dafür im Monat. "Haben oder nicht haben," sagt sie im Interview.


Tag 05 - Mittwoch, 6.12.2006
Schwedeneck, Schleswig-Holstein

Am Morgen Wolken über der Ostsee. Alle Farben blau und grau. Weiter nach Hamburg.

Eine Schrebergartenkolonie: eine Fahnenparade. Schwarz-rot-gold die meisten, aber auch eine spanische, eine türkische, die Europaflagge und viele Flaggen der Hansestadt Hamburg. Nur ist leider kein Gartenfreund anzutreffen. Mitten im Kleingartenreich eine Kantine, wir sprechen mit ihrem Pächter, auch er hat einen Garten mit Deutschlandfahne. Ein Interview vor der Kamera will er uns trotzdem nicht geben. Heute ist Bulettentag. Zusammen mit seiner Frau bereitet er sich auf den Abend vor, darauf, dass die Gartenfreunde kommen um den Tag ausklingen zu lassen. So lange können wir nicht warten, wir müssen weiter. In Wienhausen, im Landkreis Celle, lebt eine Altäbtissin die eine kleine Deutschlandfahne im Fenster hat, die wollen wir treffen. Auf dem Weg putzen wir Klinken. Fahnen in fast jedem Dorf auf der Strecke. Bei vielen Häusern ist niemand zu Hause, ein paar mal treffen wir jemanden an, doch niemand will uns ein Interview geben. Heute ist nicht gerade unser Glückstag. Die Stimmung hellt sich erst auf, als wir die Altäbtissin treffen. Morgen früh hat sie einen Termin beim Friseur, danach verabreden wir uns zum Interview. Wir sind gespannt.

Abends im Fernsehen schauen wir wieder Fahnen. Es läuft Sönke Wortmanns Dokumentarfilm über die Fußball -WM. Der Film wird in der Tagesschau angekündigt.


Tag 06 - Donnerstag, 7.12.2006
Wienhausen, Heessel, Niedersachsen

Im Juweliergeschäft von Wienhausen, gegenüber der Pension Voß, kann man Passbilder machen lassen. Ein Mann hält mit seinem rotem Passat. Er braucht Bilder für einen neuen Führerschein. Die deutsche Fahne weht seit der Weltmeisterschaft am Auto. Es ist jetzt schon die dritte. Und wenn die kaputt ist? Er deutet ins Wageninnere. Da liegt schon die vierte. "Weil ich stolz bin, ein Deutscher zu sein. Und jetzt kann man es auch sagen."

Frau von Döhren ist Altäbtissin vom Kloster Wienhausen bei Celle. Sie hat sich gefreut, als sich die Leute wegen der Weltmeisterschaft Fahnen in die Fenster gehängt haben. Sie interessiert sich nicht für Fußball , aber Symbole findet sie wichtig. Jetzt hängt die Fahne neben dem Kirchenanzeiger. Und manchmal, wenn sie die Fahne sieht, fallen ihr Lieder ein, aus ihrer Jugend. Doch es schaudert sie, wenn sie an die Texte denkt.

Der Mann, der die deutsch-holländische Imbissbude in Heessel bei Hannover betreibt, ist Holländer, seit 1974 lebt er in Deutschland. Er macht sich keine Sorgen wegen des neuen deutschen Nationalgefühls. Er ist selbst Fußball fanatiker. Ob sich die Leute nicht beschweren, dass er ein Foto von der holländischen Mannschaft in seinem Wagen hat? Ach was, er hat ja auch ein Bild von der deutschen. Bloß wo? Ach so, das hing an der Seitenwand und die ist beim letzten großen Sturm davon geflogen. Zusammen mit der holländischen Fahne. Die hing neben der deutschen am Mast. Die hängt jetzt alleine und auch nur noch an einem Zipfel.


Tag 07 - Freitag, 8.12.2006
Dortmund Nordstadt, Nordrhein-Westfalen

Klaus Salman ist stolz Deutscher zu sein. Er kam vor 38 Jahren aus der Türkei. Vor 20 Jahren hat ihn das Glück verlassen. Er hat Magenkrebs bekommen und ist operiert worden. Die Operation hat ihm das Leben gerettet aber danach hat ihn seine Frau verlassen und seine vier Kinder hat sie mitgenommen. Herr Salman sitzt alleine in seiner Wohnung in Dortmund-Nord. Er raucht Kette und schaut aus dem vierten Stock hinab auf die Straße. Am Fenster hat er eine Deutschland-Fahne angebracht. Einmal hat der Wind sie mitgenommen, aber Herr Salman hatte Glück. Er hat sie auf der Straße wiedergefunden. Daraufhin hat er sie festgenagelt, sie trotzt jetzt jedem Sturm. Salmans Frau hat versucht, ihn umzubringen, sie haben sich geprügelt und sie hat ihn mit aller Gewalt auf seine frische Operationswunde geschlagen. Die Kinder haben gerufen, "aufhören, aufhören". Sie haben sich getrennt. Klaus hieß früher Remzí, er hat einen Namen geändert. Ein Anwalt hat ihm bei der Scheidung geholfen, auch als Herr Salman schon längst kein Geld mehr hatte. Er hat ihm auch geholfen Deutscher zu werden. Mit den neuen Papieren wollte er auch einen Deutschen Namen. Den Nachnamen zu ändern war zu teuer, Herr Salman konnte sich nur einen neuen Vornamen leisten. Er hat den Namen von seinem Anwalt genommen. "Das ist ein guter Mensch," sagt Herr Salman, "ich hätte meinen Sohn nach ihm benannt, aber einen Sohn werde ich nie mehr haben." Klaus Salman steht am Fenster im vierten Stock und raucht. Die deutsche Fahne, die neben ihm flattert, hängt verkehrt herum.


Tag 08 - Samstag, 9.12.2006
Sörgenloch, Weinolsheim, Rheinland-Pfalz

"Hinter den Fahnen die jetzt noch im Dorf hängen steckt jede Menge ultrarechtes Gedankengut. Ich weiß es nicht von allen, aber von ein paar weiß ich es bestimmt." Jan Becker hat während der Weltmeisterschaft auch eine Deutschlandfahne gehabt. Danach hat sie der Hund bekommen und der hat sie zerfetzt.

"Stolz – Hm, was ist Stolz? Stolz kann man nicht sagen. Ich bekenne mich zu Deutschland." Vor dem Haus von Hans Michael Seidel steht ein Fahnenmast mit Deutschlandfahne. Nicht erst seit der WM. Die besten Fahnen bekommt man bei Schiffsausstattern. Die sind auch ganz schön teuer. 70 Euro kann man schon rechnen. Herr Seidel findet Joschka Fischer gut und ist für die CDU im Gemeinderat. Wenn die Franzosen aus der Partnerstadt in der Champangne kommen, dann hisst er die Trikolore. Die Gäste freuen sich.

Vor der WM hing die dänische Fahne vorm Haus von Herrn Orth in Weinolsheim. Bei Herrn Fruth auf der anderen Seite der Strasse auch. Die dänische Friedensfahne. Herr Orth hält uns die Fahne hin. Er hat sie aus Dänemark mitgebracht und seinen Nachbarn mit der Begeisterung angesteckt. Jetzt fahren beide immer in den Urlaub nach Dänemark. "Da haben alle Leute eine Fahne vor dem Haus und das sieht toll aus und die Menschen sind so nett. Das sollte in Deutschland auch so sein."





Tag 09 - Sonntag, 10.12.2006
Schwäbische Alb, Baden-Württemberg

Daniel Müller steht zu Deutschland. Er ist stolz auf das Sozialsystem. Er wollte es schon lange zeigen, aber die Fahne aus dem Fenster hängen, das hatte bisher einen Beigeschmack. Zur WM hat er mit Hilfe von Draht und einem Laternenmast vor seinem Fenster eine Konstruktion gebaut, an der die Deutsche Fahne weht, solange sie sich nicht verheddert. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sie rauszuhängen, in Daniels Erinnerung klingt es wie ein Jungenstreich. Daniel ist 24, er will keinen Sex vor der Ehe und hat seinen Pfarrer angerufen, weil seine Freundin evangelisch ist und er katholisch. Das geht in Ordnung hat der Pfarrer gesagt, und im Sommer werden sie heiraten.

Ariane Kuncicky ist 20. Die Fahne? Wegen dem Nationalstolz. Das ist wichtig. Das fehlt den Deutschen. Ariane ist für die CDU. Sie hat den Mast vom Surfbrett zur Fahnenstange umgebaut. Die deutsche Fahne hängt schon lange, während der WM kam die tschechische hinzu. Weil der Großvater Tscheche ist und die Tschechen haben ja auch ganz toll Fußball gespielt. Arianes Bruder Stefan ist gerade 18 geworden. Er würde gerne zur Bundeswehr um Zucht und Ordnung zu lernen. Zucht und Ordnung, die Mutter verzieht das Gesicht. Wenn es nach ihr ginge, gäbe es keine Fahne im Garten. Die Mutter findet die Grünen gut, "Ach Mama", sagen die Kinder.

Rolf Siegele freut sich, dass wir kommen und Fragen stellen wegen der WM. Was der Kliensmann für unser Land getan hat, da bin ich ihm ehrlich dankbar. Herrn Siegeles Fahne hat eine waagerechte Stütze, damit sich nicht schlaff da hängt, wenn kein Wind weht. Warum man stolz auf Deutschland ist? Seine Frau antwortet. Weil wir hier Asylsuchende aufnehmen und den Menschen helfen.


Tag 10 - Montag, 11.12.2006
Schwandorf, Bayern

Schwandorf, da komme ich her. Wir fahren durch Ettmannsdorf, den Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin. Im Garten eines großen Hauses weht eine Deutschlandfahne. Wir klingeln. Es öffnet Sandra Eichinger. Die hieß früher Braun und sie erkennt mich sofort. Wir sind zusammen in den Kindergarten gegangen. Und in die Grundschule. Erste bis vierte Klasse. Sandra war immer besser als ich in der Schule. Ich habe mich gemeldet, als die Lehrerin gefragt hat, wer aufs Gymnasium will. Sandra hat später Friseurin gelernt und arbeitet jetzt in einem Getränke-Abholmarkt. Ihr Mann ist Kranführer und viel unterwegs. In anderen Ländern haben die Leute ja auch Fahnen vor dem Haus. Das hat Sandra im Fernsehen gesehen. Sie selbst war noch nie im Ausland. Das interessiert sie nicht, sagt sie.

Der Scheuerer Hans sagt, er hat mit dem ganzen Fahnenkult nicht viel am Hut gehabt. Aber als die Weltmeisterschaft war ist er auf den Geschmack gekommen. Jetzt hängen an den zwei Fahnenstangen an seinem Haus Deutschlandfahnen. Ist auch einfacher, denn auf seine bayerischen Fahnen, die da vorher hingen hat er viel besser aufpassen müssen, damit sie ihm nicht geklaut werden. An die bayrischen Fahnen ist man vom Boden aus rangekommen. Die Deutschlandfahnen sind kürzer.


Tag 11 - Dienstag, 12.12.2006
Leipzig, Sachsen

Auf dem Weg zurück nach Berlin in Leipzig die größte Fahne, die ich in Deutschland überhaupt je an einem Privathaus gesehen haben. Peter Mendel genannt Mendelsohn hat nicht nur einen ungewöhnlichen Namen, er hat auch eine ungewöhnliche Biografie. Als Sohn eines Juden in Innsbruck geboren, ist er mit seinen Eltern mit sechs Jahren nach Leipzig gezogen. Fünf Jahre später wird die Mauer gebaut. Herr Mendel genannt Mendelsohn hatte immer schon das Herz auf der Zunge. Das hat ihn ein ums andere Mal in Schwierigkeiten gebracht. Er erzählt, wie es ist, von der Stasi verhört zu werden, und wie man sich fühlt, wenn man als informeller Mitarbeiter geworben wird. Er war bei den Leipziger Montagsdemonstrationen dabei und hat gleich nach dem Mauerfall die schwarz-rot-goldene Fahne aus dem Fenster seines Wohnblocks gehisst. Für ihn ist die deutsche Fahne noch immer eine Fahne der Freiheit, auch wenn der Staat, wie er sagt, nie viel für ihn getan hat. Auch in der Bundesrepublik hat er sich mit dem Staat angelegt. Damit seine nigerianische Frau nach Deutschland kommen durfte, musste er sich bis vors Bundesverwaltungsgericht kämpfen. Er hat schliesslich Recht bekommen, doch seine Ersparnisse waren dahin.
Die Fahne hat er vor der WM zusammen mit seinem Vermieter aufgezogen. An einem neuen Fahnenmast aus Aluminium. Sie wird hängen bleiben. Nicht für Deutschland, wie er sagt, sondern Deutschland zum Trotz.



UPDATE - Dienstag 29. 05. 2007

Berlin

Ein Sommergewitter über der Stadt. Ich sehe aus dem Fenster: Herrn Flucks Fahne ist verschwunden.